Fresszettel

Ende März 2020 / Lou Scheurmann


Fresszettel als Stichwort in eine der Suchmaschinen getippt, gibt einiges her. Eine kurze, einfache Abhandlung findet sich unter anderem auf srf.ch/100 Sekunden Wissen:
https://www.srf.ch/sendungen/100-sekunden-wissen/fresszettel
Kurz zusammengefasst: Kleine Briefchen mit Anordnungen, wie der Körper gesunden soll oder auch kleine Bildchen, was dem Körper zum Gesunden gewünscht sei, schluckte man oder zerrieb sie und mischte sie in dieser Form unter das Essen.

Heute brauchen wir das Wort «Fresszettel», eher liebevoll oder zwinkernd, nur noch für eine kleine, oft eher unsorgfältig geschriebene Handnotiz.

Fresszettel und Schluckbildchen waren damals Medizin und sind bis heute zu Tabletten, Pülverchen und Tinkturen geworden. Die Verpackungen versprechen mit ihren Designs Wichtigkeit und Wirkung, ebenso die wundervollen Produktenamen. Die Beipackzettel sind dicht gefüllt mit kleinstgeschrieben Anordnungen, Anweisungen, Vorbehalten und kaum zu buchstabierenden Inhaltsstoffen.
Es ist anzunehmen, dass die Fresszettel doch einiges Leid linderten, dass sie aber kaum Nebenwirkungen hatten. Placebo sagen wir heute, wobei nie ganz klar ist, ob mit Kopfnicken oder Kopfschütteln.
Tatsächlich ist viel Wissen über die Jahre dazu gekommen, welches uns ermöglicht, viele Krankheiten und Unpässlichkeiten zu lindern und zu heilen.
Hingegen ist unsere Art zu glauben fast unverändert geblieben, was vielleicht auch gut ist, denn dies ermöglicht uns die Aktivierung der Selbstheilungskräfte. Aber auch der Irrglaube und die Erwartungen sind geblieben. Und ich wage zu behaupten, dass sie noch stärker geworden sind.
Wir erhalten eine Unmenge an Informationen, die wir kaum verifizieren können, die uns schlichtweg überfordern. Ebenso werden wir oft einfach angelogen, so beispielsweise, wenn im Kleingedruckten von Nebenwirkungen berichtet wird, die eigentlich Wirkungen sind.
Das angeblich «Nebenwirkende» wird dann ohne Ausschluss aufgezählt und bringt uns damit auf die Idee, dass wir jetzt zur Genesung von einem Zustand - im mildesten Falle - auch noch Kopfweh oder Durchfall entwickeln könnten. Zur «Vergiftung» hinzu aktivieren wir quasi auch noch die Selbsterkrankung. So nach dem Motto «Erst das Leiden zeigt den richtigen Weg zur Gesundung …».
Trotz nur noch wenig verbreitetem Analphabetismus und sehr viel Wissen über Chemie, Physik und Biologie haben sich unsere Wahrnehmungen und Reaktionen nicht gleichermassen stark verändert. Wir verhalten uns - eigentlich zum Glück! - noch immer sehr simpel, fast reflexartig und können uns dem deshalb auch nicht entziehen.
Die einfachste Eselsbrücke versagt, wenn sie ein «nicht», eine Negation, beinhaltet. Wir glauben - ob wir wollen oder nicht - was wir sehen. So beispielsweise auch im TV und in der Werbung. Wie kämen wir sonst darauf den Kindern «Nutella» zum Frühstück als Zuneigungs- und Verantwortungsbeweis anzubieten?

Es scheint, als müssten wir glauben, aber dazu denken dürfen wir.
Wir dürfen lernen, entdecken und hinterfragen. Dabei sind Kontraindikationen, Wechselwirkungen und Wirkungsverstärkung erwünscht und können zu Verstehen und Erkenntnis führen.